DAS BUCH

Die Besonderheit der internen wie externen Bedingungen führen dazu, dass Filmfestivals fortwährend in einem komplexen Rahmen verschiedenster Herausforderungen agieren. So erklärt sich, dass sie die existenzielle Bedrohung durch den globalen Ausbruch der Covid19-Pandemie in kürzester Zeit als weitere Aufgabe annahmen. Während der Kultur-, Film- und Kinosektor ab März 2020 monatelang zum Erliegen kam, erfanden sich viele Filmfestivals bereits nach wenigen Wochen neu und bildeten damit den Anfang einer Entwicklung zahlreicher neuer Formen, um Filmkultur online wie physisch in einer beachtlichen Vielfalt zu präsentieren ebenso wie den Akteur:innen der Filmbranche ein wichtiges Forum zu bieten. Dabei konzipierten und erprobten sie oftmals auch Lösungsansätze, die gleichzeitig andere dringliche Aufgaben wie die ökologische Nachhaltigkeit, die Diversität der Gesellschaft und die digitale Transformation mitdachten und setzten damit nicht selten neue Standards.

Dieser Sammelband versteht sich als Einladung, die deutsche Filmfestivallandschaft bei ihrem Wandel zu begleiten und damit den Vordenker:innen zu folgen, die sich nicht erst jüngst bei der Fortentwicklung des Festivalsektors, sondern ebenso der Filmkultur wie auch der Filmwirtschaft insgesamt mit neuen Strategien und Konzepten hervorgetan haben. Präsentiert werden Filmfestivals aus dem gesamten Bundesgebiet mit unterschiedlichsten Festivalprofilen sowie verschiedenen organisationalen Strukturen und somit erkenntnisreiche Einblicke nicht allein für Kolleg:innen des wachsenden Filmfestivalsektors, sondern ebenso für Kinobetreiber:innen, Produzent:innen, Filmemacher:innen und für Filmschaffende der zahlreichen weiteren Gewerke.

Filmfestivals – Krisen, Chancen, Perspektiven
Oktober 2022, 387 Seiten,
farbige und s/w-Abb.,
ISBN 978-3-96707-725-4

Die Herausgeber:innen

© Andrej Kostritski.jpg

Tanja C. Krainhöfer

studierte Produktion und Medienwirtschaft an der Hochschule für Fernsehen
und Film München. Spezialisiert auf den Filmfestivalsektor ist sie heute im Bereich Markt-, Wettbewerbs- und Erfolgsfaktorenanalyse in der angewandten Forschung tätig. Sie berät Festivals bei ihrer strategischen Positionierung und Entwicklung sowie Akteur:innen aus dem öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Bereich bei ihrer Zusammenarbeit mit diesen. Sie ist Gründerin der interdisziplinären Forschungsinitiative Filmfestival Studien.

© Damian Domes

Joachim Kurz

studierte Filmwissenschaft, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er gründete 2003 das Online-Portal Kino-Zeit, das er bis heute als Herausgeber und Chefredakteur leitet. Er ist Festivalkurator und -macher, Autor mehrerer Bücher und Juror bei verschiedenen Festivals sowie Juryvorsitzender bei der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW).

Auszug aus dem Vorwort von Georg Seeßlen:
Transformationen der Filmkultur - und was Festivals damit zu tun haben

IV

Ein Filmfestival muss einen Grund haben. Es ist nicht ausreichend, dass Smallville noch kein Filmfestival hat und das ökonomische Interesse auf ein lokales Kulturereignis zur Füllung von Hotels und Gaststätten drängt. Der primäre Grund für ein Filmfestival sind die Filme, die es vor dem Verschwinden bewahren will, der sekundäre Grund ein potentielles Publikum, das sich nicht bloß am Glamour- und Unterhaltungswert, sondern an diesem Projekt der Bewahrung der Welt im Film beteiligen will. Und der tertiäre Grund ist die Möglichkeit der Kontextualisierung. Es gibt keinen Film; es gibt immer nur ‘Film und…’ Der Grund des Festivals ist die nähere Darstellung dieses ‘und’.

Ein Filmfestival muss ein Design haben. Das Design bestimmt nicht nur (wie ich oben behauptet habe) den ‘bestimmten Blick’ auf die Filme und den Kontext, in dem gesehen und gesprochen werden kann, es ist für einen bestimmten Zeitraum auch so etwas wie eine cineastische ‘Heimat’, eine soziale und semiotische Insel. Das heißt es ist zugleich Abbild und Gegenbild zur Gesellschaft, in der es stattfindet. Und so sind zunächst alle Fragen, die ich an eine Gesellschaft stelle, auch Fragen, die ich an ein Festival stelle: Wie demokratisch, transparent und offen sind die Entscheidungswege? Welche Kultur von Inklusion und Diversität herrscht hier? Werden, zum Beispiel, alle Mitarbeiter:innen gerecht bezahlt, oder etabliert sich ein System von Ausbeutung und Selbst-Ausbeutung? Welche Möglichkeiten der Korrekturen und Reflexionen gibt es? Wie werden die mannigfachen Elemente behandelt, die von außen Einfluss nehmen? Welche Beziehungen gibt es zwischen Finanzierung und politischer Ökonomie? Was tut ein Festival für die internationale Solidarität insbesondere in Bezug auf antidemokratische und unterdrückende Verhältnisse?

Eine nächste Frage ist die nach der Beziehung des Festivals mit seiner direkten Umwelt. Einer meiner Kollegen in Italien beginnt seine Festivalberichterstattung konsequent mit der Wiedergabe der Preise für eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier in Festivalnähe – vorher, währenddessen, nachher. Das ist natürlich nur ein Aperçu zur Frage, welche Rolle Festivals in urbanistischen und mikro-soziologischen Umfeldern spielen. Auch Festivals müssen ihre Rolle bei den Zyklen von Gentrifizierung und Verelendung reflektieren. Eine Forderung wäre demnach, dass sich Festival-Organisationen auch mit urbanistischen und ökologischen Aktivist:innen vor Ort zusammentun.

Dazu wiederum gehört auch die öffentliche Präsenz. Nicht selten haben wir es mit einer Inszenierung von ‘Inbesitznahme’ zu tun, und große Festivals neigen zu einer ‘triumphalistischen’ Selbstdarstellung, als hätte man sich immer noch nicht vom Riefenstahlismus des öffentlichen Ornaments befreit. Ein Festival, auch eines der bescheideneren Art, generiert Inszenierungen und Zeichen, und sie gilt es ebenso achtsam einzusetzen wie die Beziehungsformen der Mikro-Organisation. Ein Festival ist ein ‘Rahmen’ für Bilder in Bewegung und Bilder der Bewegung, es ist aber zugleich selbst ein Bild der Bewegung. Es ist Ausdruck der Beziehung zwischen Film und Gesellschaft, und der Freiheit, die es dabei für sich in Anspruch nehmen darf, steht auch eine entsprechende Verantwortung gegenüber. Das Festival muss nicht nur nach dem beurteilt werden, was es bietet, sondern auch nach dem, was es hinterlässt.

Ein Festival muss ein Ziel haben. Das Ziel eines Festivals ist die Verwandlung bewegter Bilder in eine bildhafte Bewegung. Man fragt nach der Fähigkeit der Filme, etwas zu bewegen und wird zugleich zum Medium einer solchen Bewegung – andernfalls verwandelt sich ein Festival von einer Kraft gegen das Verschwinden zu einem Agenten des Verschwindens. Man kann dies den utopischen Kern eines jeden Filmfestivals nennen: Die Bewegung von Film in die Bewegung von Menschen zu übersetzen. Aus der gemeinschaftlichen Arbeit an und mit Filmen eine gesellschaftliche und kulturelle Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen. Es geht nicht um die äußere Hülle, den Glamour, die Star-Power, die Spannungen des Wettbewerbs, die Aufmerksamkeit, den Effekt, sondern um diesen utopischen Kern des Festivals. Das freilich soll keineswegs heißen, dass die äußere Hülle zu vernachlässigen oder gar abzuwerfen wäre. Es darf ihr nur nicht erlaubt werden, den utopischen Kern zu ersticken. 

[…]

Es geht um die Veränderung der Welt. Und Filme können Teil dieser Veränderung sein; es liegt einerseits an und in ihnen selbst, und andererseits in dem Kontext, in den wir sie zu stellen vermögen. (Im ‘richtigen’ Kontext ist auch ein ‘falscher’ Film erkenntnisstiftend.)

Wenn ein Filmfestival keinen utopischen Kern enthält, ist es den Besuch nicht wert. Umgekehrt besteht die Hoffnung darauf, dass aus diesem Kern Impulse auch weit über das Design und die temporäre Soziologie eines Festivals hinausreichen.