un.thai.tled Filmfestival und SİNEMA TRANSTOPIA

Das un.thai.tled Filmfestival wurde trotz der pandemischen Schwierigkeiten 2020 / 21 von der nonbinären Filmemacher:in und Kurator:in Sarnt Utamachote gemeinsam mit der Sozialanthropologin und Künstlerin Rosalia Namsai Engchuan als Teil des un.thai.tled Künstler:innenkollektiv aus der deutschen Thai-Diaspora gegründet. Das un.thai.tled Kollektiv kuratiert nomadische Kino- und Kulturveranstaltungen, in denen Stereotype sowie eurozentrisch-koloniale Denkweisen, die Thailand und Südostasien betreffen, aufgebrochen werden. Mit Fokus auf partizipatives Empowerment, gemeinschaftsorientierte Programme und Barrierefreiheit versucht un.thai.tled Brücken zwischen den Generationen in der Diaspora, Menschen im Exil und anderen marginalisierten Position zu bauen. Mit dem Ziel, Solidaritäten jenseits nationaler Grenzbeschreibungen zu realisieren, arbeitet un.thai.tled mit anderen Gemeinschaften und Kollektiven.

SİNEMA TRANSTOPIA ist ein Kino-Experiment, das Kino als sozialen Diskursraum, als Ort des Austauschs und der Solidarität untersucht. Die kuratierten Filmreihen bringen diverse soziale Communities zusammen, verknüpfen geografisch entfernte und nahe Orte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und dezentrieren einen eurozentristischen Blick durch transnationale, (post-)migrantische und postkoloniale Perspektiven. SİNEMA TRANSTOPIA steht für ein anderes Kino, das sich zugleich einer lokalen und einer internationalen Community verpflichtet sieht, das Kino als wichtigen Ort gesellschaftlicher Öffentlichkeit versteht, das filmhistorische als erinnerungskulturelle Arbeit betrachtet und sich für die Vielfalt der Filmkultur und Filmkunst einsetzt. Im Haus der Statistik am Berlin-Alexanderplatz schlägt das Kino-Experiment eine Brücke zwischen urbaner Praxis und Film und kreiert einen Ort, der Zugänge öffnet, Diskussionen anregt, weiterbildet, bewegt, provoziert und ermutigt.

SİNEMA TRANSTOPIA wurde 2020 von bi’bak initiiert. bi’bak arbeitet mit einem Fokus auf transnationale Narrative, Migration, globale Mobilität und ihre ästhetischen Dimensionen. SİNEMA TRANSTOPIA erhielt 2021 den Kinopreis des Kinematheksverbundes sowie den Kinoprogrammpreis Berlin-Brandenburg des Medienboard Berlin- Brandenburg.

(Sarnt Utamachote, Rosalia Namsai Engchuan, Malve Lippmann, Can Sungu)

 

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Exzerpt aus Buch / Leseprobe

Auszug aus dem Beitrag „Transnationale Verflechtungen jenseits von eurozentrischer Dominanz und nationalstaatlichen Konzepten“ von Sarnt Utamachote und Rosalia Namsai Engchuan (un.thai.tled Filmfestival) mit Malve Lippmann und Can Sungu (bi’bak und SİNEMA TRANSTOPIA)

Malve Lippmann (ML): Wir kennen uns ja nun schon einige Jahre und haben auch bei vielen Programmen zusammengearbeitet. Mit dem Filmfestival von un.thai.tled und Eurem persönlichen Input als Künstler:innen und Kurator:innen habt Ihr auch das Profil des Kino-Experiments SİNEMA TRANSTOPIA wesentlich mitgeprägt. Seit September 2020, als wir mitten in der Pandemie im Haus der Statistik eingezogen waren, habt ihr das un.thai.tled Festival zwei Mal veranstaltet, aber auch in vielen Programmen als Kurator:innen mitgewirkt und weitere Projekte und Workshops bei uns initiiert. In diesem Gespräch soll es nun um unseren Blick auf Festivals als Form des gemeinsamen Kinoerlebnis und um das Kino als kulturelle Praxis gehen. Wir werden darüber reden, wie für uns das Kino als politischer und sozialer Diskursraum, als Ort des Austausch und der Solidarität funktioniert, in dem postkoloniales und migrantisches Wissen repräsentiert und der eurozentrische Blick dezentriert werden kann. Nun würde ich aber gerne mit der Frage einleiten: Wie war eure erste Begegnung mit Film? Wie waren eure ersten Festivalerfahrungen und was waren für euch die Impulse, selbst ein Festival ins Leben zu rufen?

Sarnt Utamachote (SU): Als ich zum ersten Mal im Kino war, war ich fast sechs Jahre alt. Es war damals ein lokales Kino am Rande von Bangkok. Da gab es nur Filme mit thailändischen Untertiteln. Niemand konnte Englisch. Alle brachten Reis mit Kokosmilch oder Obst und Cola mit. Wir kannten keine Filmfestivals oder Arthouse-Filme. Wir kannten nur Unterhaltung, oder besser gesagt, sozialpolitische Inhalte, auf die sich alle beziehen konnten. Inzwischen hat sich viel verändert. Insbesondere verwunderten mich, als ich nach Berlin kam, die Verhaltensmuster der Kinozuschauer:innen. Alle benehmen sich, als wäre man in einer Kirche. Alle nehmen den Film so ernst, dass ich mich fragte: Warum? Auch wenn Obst und Essen im Kino hier nicht erlaubt sind, gibt es doch andere Geräusche und Formen von ‚Imperfektionismus‘, was mich sehr fasziniert. Es wird Stille, Ernsthaftigkeit und Intellektualismus von einem erwartet, auch wenn es keinen Dresscode gibt, an dem die Klasse festgemacht werden kann. Meine erste Berlinale hat mich sehr erschreckt, weil alle dieses Festival so ernst nehmen. Oft fand ich, dass die Vorführungen, die Filme, oder die Festivals fast keine Beziehung zum Alltag eingehen oder irgendeine Art von gesellschaftlicher Relevanz haben. Insbesondere frage ich immer, was ist das Interesse des lokalen Publikum, was wollen sie im Kino sehen? In der letzten Ausgabe strebte die Berlinale an, mehr Migrant:innen oder andere Publikumsgruppen ins Kino zu bringen, ohne dabei darüber nachzudenken, ob diese sich überhaupt dafür interessieren oder Zeit für einen Kinobesuch haben würden. Warum ist der Kinoraum zu einem Showroom für IKEA-Filme geworden? (Das Berlinale Programmbuch sieht sowieso wie ein IKEA-Katalog aus) – also IKEA meine ich im Sinne eines ‚Selfmarketing‘ der einzelnen Sektionen. Die Filme werden oft nur noch als Ware betrachtet; also irgendwie ist alles oberflächlich und glatt. Was bedeutet Filmfestival? Weist ein Filmfestival nur auf eine Reihe von ausgewählten Filmen hin, die irgendwie, irgendwann und von irgendjemandem zusammengestellt worden sind oder könnte es auch ein Erlebnis sein, das direkt an uns gerichtet ist? Stell dir vor, wenn Du bei der Konzeption von etwas mitbedacht wirst, dann wirkt es auch viel stärker auf dich, als das, was an ein anonymes (meistens weißes) Publikum gerichtet ist. Ich fragte mich, wenn ich ein Kino oder ein Festival erschaffen könnte, das meinen Vorstellungen entspricht, was würde ich anders machen? Warum zögern alle noch immer davor etwas zu ändern, wenn viele doch gar keine Lust mehr darauf haben, immer den gleichen Muster dieses weißen Intellektualismus zu begegnen?

Rosalia Namsai Engchuan (RNE): Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Mein Vater ist Thai, meine Mutter Deutsche. Die beiden haben sich hier in Deutschland kennengelernt und leben inzwischen zwischen Deutschland und Thailand. In meiner Kindergarten- und Schulzeit war ich eine der wenigen, die nicht weiß waren. Jenseits von Besuchsreisen nach Thailand, die wir regelmäßig als Familie unternommen haben, hatte ich keinen wirklichen Bezug zu ‚Thainess‘ oder zu meiner thailändischen Seite. Durch ein paar Umwege habe ich dann ein Masterstudium begonnen, um die Sprache richtig zu lernen und mehr von der Kultur zu verstehen, die zwar irgendwie ein Teil von mir war, zu der ich aber keinen direkten Zugang hatte. Das Studium war eine interessante Zeit. Viele Dinge, die ich im Studium über Thailand und Thais allgemein lernte, fühlten sich instinktiv irgendwie falsch an. Gleichzeitig aber kam ich damals mit kritischer Theorie in Kontakt. Ich eignete mir ein neues Vokabular für Erlebnisse an, die sich seit meiner Kindheit komisch angefühlt hatten: Rassismus, Othering. Ich verstand mithilfe von Theorien zur sozialen Konstruktion, dass das Problem nicht in mir lag, sondern in der Art und Weise, wie Thai Frauen im Westen und auch in Deutschland stereotypisiert werden. In dieser Zeit habe ich beim Asian Film Festival Berlin als Volunteer ausgeholfen. Durch independent und experimentelle Filme aus Südostasien und von Diaspora-Filmemacher_innen, die auf Festivals gezeigt wurden und auch im Kunstbereich habe ich viel gelernt. Wichtig war, dass das die authentische Perspektive der Menschen war und nicht eine westliche Beschreibung oder Zuschreibung. Hier fand ich auch endlich inspirierende Rollenbilder. Die Rollen für asiatisch gelesene Frauen im deutschen Fernsehen waren deprimierend und limitierend. Das hatte überhaupt nichts damit zu tun, wie Thai-Frauen sind oder ich mich fühlte aber alles damit zu tun, wie der Westen dieses unterwürfige _other’ braucht, um sich besser zu fühlen. Inspiriert von den vielen großartigen Arbeiten aus der Region und motiviert, da ich so langsam verstand, dass das Problem nicht in mir lag, habe ich einen Filmworkshop gemacht. Von anderen PoC-Filmemacher:innen in Berlin habe ich die Grundlagen gelernt. Zum ersten Mal lernte ich andere Asiat:innen in Deutschland kennen. Das war ein unglaublich schönes Gefühl von Gemeinschaft und Community. Ich habe meine ganzen Erfahrungen und wissenschaftlichen Forschungen und meine ganze Wut in einen dreiminütigen Film gepackt. Als ich den Film zum ersten Mal gezeigt habe, war ich unglaublich befreit. Ich konnte etwas loslassen, was mich enorm belastet hatte.

Macher:innen

Rosalia Namsai Engchuan (โรสาลียา น้ำใส เอ่งฉ้วน)

ist eine zwischen Berlin und Südostasien lebende Sozialanthropologin und Künstlerin. Zurzeit arbeitet sie mit Künstler*innen und kulturellen Akteur*innen in Südostasien zu künstlerisch-theoretischen Interventionen in Problemfeldern der Moderne, die weit über Klimawandel und Umweltkrise hinausgehen. Rosalia war 2021 Goethe-Institut Fellow am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin. Sie ist Co-Kuratorin des un.thai.tled Film Festival (2019-nun). Ihr Kurzfilm COMPLICATED HAPPINESS wurde in verschiedenen internationalen Kontexten sowie Ausstellungen gezeigt.

Sarnt Utamachote (ษาณฑ์ อุตมโชติ)

ist eine nonbinäre Filmemacher*in und Kurator*in. Sie ist die Mitgründer*in von un.thai.tled, einem Künstler*innen-Kollektiv aus der deutschen Thai-Diaspora, mit dem sie eine performative Intervention “Forgetting Thailand” (2022) im Rahmen der Ausstellung “Nation, Narration, Narcosis” am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin, Forschung und Ausstellung “Where is my karaoke? Still, we sing” (2022), „Beyond the kitchen: Stories from the Thai Park” (2020) und un.thai.tled Film Festival Berlin (2019-nun) kuratiert hat. Sie ist außerdem ein Teil des experimentellen kuratorischen Kollektivs Cruising Curators. Ihre Videoinstallation I AM NOT YOUR MOTHER (2020) wurde beim International Film Festival Rotterdam ausgestellt und ihr Kurzfilm SOY SAUCE (2020) wurde im Rahmen des OutFest Fusion LA, Xposed Berlin und Queer East London 2021 gezeigt. Sie arbeitet derzeit in der Auswahlkommission von Xposed Queer Filmfestival Berlin und Kurzfilmfestival Hamburg (2022-).

 
 

Malve Lippmann

ist Künstlerin, Kuratorin und Kulturmanagerin. Sie studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und am Institut für Kunst im Kontext (UdK) in Berlin. Als freiberufliche Bühnenbildnerin und Künstlerin zeichnete sie international verantwortlich für die Gestaltung zahlreicher Performances, Opern- und Schauspielproduktionen. Seit 2010 ist Malve Lippmann als Kuratorin und Kulturmanagerin tätig, leitet künstlerische Workshops und Seminare und ist in diversen Kultur- und Community-Projekten aktiv. Mitherausgegeberin der Publikationen u.a. »Bitte zurückspulen – Deutsch-türkische Film- und Videokultur in Berlin« (Archive Books, 2020),»Bitter Things – Narratives and Memories of Transnational Families« (Archive Books, 2018). Sie ist Mitbegründerin und künstlerische Leiterin von bi’bak und Sinema Transtopia in Berlin.

 

 

Can Sungu

ist freier Künstler, Kurator und Forscher. Er studierte Film, interdisziplinäre Kunst und visuelle Kommunikationsdesign in Istanbul und Berlin. Er unterrichtete Film- und Videoproduktion, kuratierte verschiedene Filmprogramme bzw. Veranstaltungsreihen zu Film und Migration und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Mitherausgegeber der Publikationen u.a. Bitte zurückspulen – Deutsch-türkische Film- und Videokultur in Berlin (Archive Books, 2020), Bitter Things – Narratives and Memories of Transnational Families (Archive Books, 2018). Als Juror und Berater war er u.a. für Berlinale Forum, Internationale Kurzfilmtage Oberhausen und DAAD tätig. Er ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter von bi‘bak und Sinema Transtopia in Berlin.